Um ein Haar nicht eingetütet
- Marion Schimmelpfennig
- 6. März
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Aug.

Es war nicht nur kalt. Das hätte ich noch akzeptiert, denn das war ich gewohnt. Es war darüber hinaus staubig – so gar nichts für meine äußere Hülle, die ich schmuck und sauber mochte. »Picobello« hieß das zu meiner Zeit. Seit ich in der Kiste war, fühlte ich zudem eine verstörende innere Leere. Eine Nutzlosigkeit, die an meinem Selbstwertgefühl nagte und nagte und nagte. Die mir schließlich Albträume bescherte und danach Depressionen. Nicht schön!
Und dann dieses Eingequetschtsein zwischen völlig Fremden, mit denen ich nichts gemein hatte. Die mich drangsalierten, wo sie nur konnten. Die blechernen, kratzbürstigen, klebrigen und heuchlerisch samtweichen Stimmen bohrten und bettelten um eine Reaktion. Ich antwortete nie.
Äonen später – vielleicht waren es auch nur Sekunden oder Wochen, ich kenne mich da nicht aus – spürte ich zunächst einen leisen Lufthauch und dann einen Sonnenstrahl. Stimmen. Eine helle, glockenhelle Stimme. Eine nicht ganz so helle Stimme. Mir unbekannte Stimmen. Das Herz, das ich nicht besaß, klopfte bis zum Anschlag.
»Mama, was ist das?«
Ich wurde in die Höhe katapultiert. Hing, zwischen Daumen und Zeigefinger baumelnd, vor den blauesten Augen, die man sich vorstellen kann. Das Blau passte perfekt zu meinem Bonbonrosa.
»Ach, nichts. Das entsorgen wir.«
Das Herz, das ich nicht besaß, rutschte mir in die Hose, die ich ebenfalls nicht besaß.
»Kann ich es behalten?«
Und so kam es, dass ich nicht mehr in die Kiste zurück musste, sondern auf den Holzdielen des Dachbodens meiner ehemaligen Besitzerin Karoline Winter zu liegen kam. Diese hatte – so erfuhr ich, während sich Mutter und Tochter beim Durchsuchen weiterer Kisten unterhielten – vor Kurzem das Zeitliche gesegnet. Als offenbar alle Kisten durchsucht und weitere Schätze geborgen worden waren, wurde ich in eine Plastiktüte gesteckt und verließ an der Hand meiner vor Freude hüpfenden neuen Besitzerin den staubigen Dachboden über eine steile Stiege.
«Erstmal Hände waschen, kleines Fräulein!«
In der Tüte schaukelnd nahm ich vertraute Gerüche wahr: den Duft von Kernseife, Veilchen und Maiglöckchen. Von scharfem Scheuerpulver, feuchten Fensterrahmen und altem Linoleum. Ich fand mich in meinem gewohnten Habitat wieder: dem Badezimmer von Karoline Winter. Allerdings nur kurzzeitig.
»Beeil‘ dich, Kind.«
»Ich beeile mich, Mama, egal, wie lange es dauert!«
Meine neue Besitzerin schien ein Spaßvogel zu sein. Das freute mich, denn Karoline Winter hatte ebenfalls erstaunlich flotte Sprüche von sich gegeben, wenn sie mir gegenüberstand und mit einer großen weichen Bürste durch ihr langes graues Haar strich: »Ich wusste ja, dass ich mal alt werden würde. Ging nur ein bisschen schnell.« Hin und wieder zupfte sie die Haare aus der Bürste, zwirbelte sie zwischen den Fingern und steckte sie mir in den Rachen. Wenn die Haare drohten, mir oben rauszukommen, nahm sie mich behutsam ab, entleerte mich im Abfalleimer – das war immer ein bisschen eklig – und hängte mich an meiner Schlaufe wieder an die Wand.
Nachdem das Rauschen des Wasserhahns verklungen und die triefenden Patschhändchen des blauäugigen Wesens offenbar abgetrocknet waren, tat sich außer häufigem Schaukeln und Ruckeln lange Zeit nichts. Dann wurde ich endlich aus der Tüte gezogen. Hing erneut baumelnd vor diesen wunderbar blauen Augen. Die blauen Augen musterten mich eingehend – hatten auch sie entdeckt, dass wir farblich perfekt aufeinander abgestimmt waren? – und schweiften dann unschlüssig im Zimmer umher. Ach – dieses Zimmer! Es war ein Traum aus Weiß, Hellblau und Rosa und duftete nach Sandelholz und Mandarine. Auf einem Bett lagen drei Puppen, und auf einer dieser Puppen ruhten nun die blauen Augen, die sich im nächsten Augenblick weiteten und zu leuchten begannen.
Ich hatte so eine Ahnung, was das bedeutete. Immer dann, wenn Karoline Winter leuchtende Augen bekommen hatte, war im nächsten Moment etwas Ungewöhnliches geschehen. Einmal hatte sie eine Schere genommen und ihren langen Zopf abgeschnitten. Da war mir angst und bange geworden, denn einen ganzen Haarzopf hätte ich nicht vertragen. Ich hoffte inständig, dass nichts dergleichen geschehen würde, denn die blauen Augen waren von vielen hübschen blonden Locken umrahmt. Es wäre eine Schande gewesen, sie … – zwei kleine Hände ergriffen mich, trugen mich hinüber zum Bett und betteten mich behutsam in die Arme einer Puppe. Flink zauberten die Hände aus einer Schublade Filzstifte hervor und begannen, mir mit Veilchenblau, Himmelblau, Türkisblau, Kirschrot, Dottergelb und Grasgrün auf Bauch und Rücken zu tupfen, zu kritzeln und zu malen.
Doch es schien etwas zu fehlen, denn das kleine Gesicht verdüsterte sich. Die blonden Locken wippten aus dem Zimmer und ich hörte, wie das Kind die Mutter um Süßigkeiten bat. Es entwickelte sich ein Wortwechsel und ich befürchtete schon einen bitteren Zank, als sich die Stimmen beruhigten. Kurz darauf wippten die blonden Locken sichtlich beflügelt ins Zimmer. Die Mutter folgte ihr auf der Ferse, etwas weniger beflügelt, dafür eine Tüte mit Buchstabenkeksen in der Hand. Die Ähnlichkeit zwischen der Mutter und der Karoline Winter, die mich damals im Friseurladen für fünfundneunzig Pfennig erstanden hatte, war so atemberaubend, dass ich für einen Augenblick darüber nachgrübelte, ob sie von den Toten wiederauferstanden sein könnte.
Stolz erklärte das Mädchen der Mutter, sie habe für ihre Puppe Helene eine Schultüte angefertigt, welche nun eine Füllung in Form von Süßigkeiten benötige. Die Mutter betrachtete mich einen Augenblick lang nachdenklich, dann erhellte sich ihr Antlitz und sie nickte wohlwollend.
»Das ist sehr hübsch, mein Engel. Aber es war einmal etwas anderes.«
»Was denn?«
»Ich zeige es dir.«
Behutsam breitete die Mutter die Buchstabenkekse auf dem Bett aus und begann, sie zu ordnen. Zuerst ein H, dann ein A, dann noch ein A. Dann ein R, ein T, ein U, ein E, noch ein T und noch ein E. Die zarten Hände des Mädchens fuhren die Buchstaben nacheinander ab, die Lippen formten dabei stumme Laute. Dann begann die Mutter, von Karoline Winter zu erzählen. Da wusste ich, dass alles gut werden würde.
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