Caipirinha, Caipiranha, Cha Cha Cha
- Marion Schimmelpfennig
- 24. Apr.
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Aug.

Vivienne und ich halten uns die Bäuche vor Lachen. »Dein schwarzer Humor bringt mich noch um!«, kreischt sie. Tränen laufen ihr die fleischigen rosigen englischen Wangen hinab. »Ich … kann … nicht … mehr«, stoße ich unter schmerzhaften Lachsalven hervor. Ich ringe nach Luft, bekomme keine, krümme mich schließlich auf dem Fußboden. Jetzt gackert Vivienne noch hysterischer als zuvor. »Ka-ka-ka-ka-ka-ka-ka …, ka-ka-ka-ka-ka-ka!« Ihre mächtige Oberweite bebt und schaukelt bedrohlich.
Als wir uns wieder beruhigen, deutet Vivienne mit hochgezogenen Augenbrauen auf unsere leeren Cocktailgläser. Ob ich uns noch einen Caipiranha mixen solle, frage ich scheinheilig. Ob der Papst katholisch sei, gibt Vivienne zurück. Meinen Caipirinha haben wir ob des großzügigen Mischungsverhältnisses zugunsten des Cachaça in Caipiranha umgetauft.
Vivienne, Cocktail in der Hand, schaltet das Radio ein. Ein Cha Cha Cha erfüllt das Wohnzimmer ihres Strandhauses, das am Rande von Sao Paulo liegt. Gekonnt wiegt sie ihre stattlichen Hüften im Rhythmus von Tom Jones‘ „Sex Bomb“ und vollführt elegante Tanzschritte. Beneidenswert, denke ich und imitiere den Rhythmus unbeholfen, indem ich mit dem Fuß wippe. »Du wirst es vielleicht nicht glauben, weil ich so dick bin, aber ich kann sogar einen Spagat«, sagt Vivienne, legt lasziv ihren Kopf in den Nacken, dreht eine Pirouette, und mit ihren rotgemalten Lippen wirft sie ihrem Cocktailglas einen Kussmund zu, als sei es ein Verehrer.
Ich denke kurz nach. »Okay«, antworte ich, »ich gebe zu, ich kann keinen Spagat, aber es gab auch noch keinen Moment in meinem Leben, wo ich dachte: Jetzt kann nur noch ein Spagat helfen.« Vivienne fällt vor Lachen fast das Glas aus der Hand. Nie werde sie den ersten Morgen unseres gemeinsamen Urlaubs vergessen, japst sie. Wieder laufen ihr Lachtränen über die Wangen. Ich schlage beschämt die Hände vors Gesicht und lasse das Ereignis in Gedanken Revue passieren:
Am ersten Abend waren wir früh zu Bett gegangen – Vivienne mit ihrer CPAP-Maske im Schlafzimmer, ich im Gästezimmer. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Dafür sorgten Moskitos, die ein Schlupfloch im Fliegengitter gefunden hatten. Ich schnappte mir mein Kissen und schlich ins Wohnzimmer. Auch dort fielen Moskitos über mich her. Ich ging in die Küche, setzte mich an den Tisch, bettete den Kopf auf meine verschränkten Arme. Nein, so konnte man nicht schlafen. Ich ging auf die Terrasse.
Inzwischen war es so kühl geworden, dass sich die Moskitos verzogen hatten, also setzte ich mich an den Tisch, legte mein Kopfkissen darauf und versuchte, eine Schlafposition zu finden. Sobald ich eingenickt war, meldete sich ein Muskel, um mir mitzuteilen, dass nun eine andere Sitzposition angebracht sei. So ging das die ganze Nacht. Ich bin eindeutig nicht expeditionstauglich.
Am nächsten Morgen war ich alles, nur nicht ich. Völlig übermüdet und sehr schlecht gelaunt. Jetzt musste erst einmal Kaffee her. Ich ging in die Küche, sah auf die Uhr. Schon halb neun? Warum war Vivienne noch nicht wach? Ich dachte an ihre Schlafapnoe. Wenn die CPAP-Maschine aussetzt, kann Vivienne ersticken. Während ich fahrig mit der Kaffeemaschine hantierte, überlegte ich. Logik musste her. Wenn ich jetzt nach Vivienne sah und sie noch lebte, würde ich sie aufwecken und müsste länger auf den dringend benötigten Kaffee warten. Außerdem wäre der Gang völlig umsonst gewesen. Wenn Vivienne bereits erstickt war, konnte ich nichts mehr für sie tun und müsste ebenfalls länger auf meinen Kaffee warten. Auch dieser Gang wäre umsonst gewesen.
Da beides völlig sinnlos gewesen wäre, entschied ich mich für den Kaffee. Danach ging es mir besser. Und danach fiel mir auch siedend heiß die dritte Option ein: dass Vivienne vielleicht exakt in diesem Moment zu ersticken drohte und ich sie retten konnte. Ich wollte gerade die Kaffeetasse absetzen und in ihr Zimmer eilen, als Vivienne um die Ecke bog. »Du lebst«, hatte ich sie begrüßt, »Gott sei Dank.« Nachdem ich Viviennes fragende Blicke mit meiner Horrorgeschichte beantwortet hatte, johlte sie drauflos. Gut, dass Vivienne meine Logik nachvollziehen konnte. Vielleicht war es auch ihre Großzügigkeit. Löwe-Geborene sind so.
Vivienne wiegt sich nun zu einer Rumba. Morgen früh, verkündet sie, wolle sie richtigen englischen Breakfast-Tee machen und ob mir das recht sei. Ich nicke begeistert und frage sie, ob sie eigentlich weiß, dass ich die Leute am liebsten wie meinen Tee mag. Vivienne sieht mich an, schüttelt den Kopf. »In einem Beutel. Unter Wasser«, erkläre ich.
»Ka-ka-ka-ka-ka-ka-ka!«
Vivienne nimmt einen langen Zug aus ihrem Cocktailglas. Wenn der letzte Strohhalm, an den man sich klammert, in einem Caipirinha stecke, sei es eigentlich gar nicht so schlimm, konstatiert sie. Ich pruste und bekleckere mein Kleid.
So geht das den ganzen Abend. Cocktails mixen. Dummen Spruch loslassen. Sich vor Lachen fast in die Hose pinkeln. Cocktails auffüllen. Dummen Spruch loslassen. Und so weiter und so fort. Jeder kennt das.
Weit, weit nach Mitternacht werden wir ruhiger. Vivienne gesellt sich zu mir auf die Terrasse, wo ich genüsslich eine Zigarette rauche. Die Nacht ist samtweich. Ein zarter Wind setzt ein.
Obwohl Viviennes Haus direkt am Strand liegt, ist der Urwald ganz in der Nähe. Mit Beginn der Dämmerung beginnt eine Tierart nach der anderen zu zwitschern, zu rufen oder zu schreien, und nach und nach stimmen Millionen von Zikaden ein. Das ist mitunter ein Höllenlärm und nichts für empfindliche Ohren.
Doch es ist spannend. Nach Einbruch der Dunkelheit nimmt die Geräuschkulisse ab, und je weiter die Nacht voranschreitet, desto besser kann man einzelne Geräusche wahrnehmen. Zum Beispiel den Jammerlappen. Vivienne und ich nennen ihn so, weil er unglaublich traurig klingt, eigentlich schon depressiv. So, als ob alles verloren wäre und nichts und niemand ihm mehr helfen könnte. Ein tief berührendes, herzzerreißendes, tiefer werdendes »Huu-huuu-huuuuu«. Was konnte dem armen Kerl widerfahren sein? Was hatte man ihm angetan? Und was für eine Spezies war es überhaupt? Ein verlassenes Kojotenbaby? Ein zu Tode betrübter Indianer? Wir waren zum Schluss gekommen, dass es sich um einen Vogel handeln muss.
Jede Nacht jammerte der Jammerlappen, was das Zeug hielt, und wir sahen keine Möglichkeit, dem Ärmsten zu helfen. Immerhin, so sagten wir uns, lebt er noch.
In dieser samtweichen Nacht ist alles still. Wir lauschen und lauschen, doch das depressive Weinen will sich nicht einstellen. Vivienne und ich machen uns große Sorgen. »Selbstmord«, konstatiert Vivienne schließlich mit ernster Miene, »er hat sich vom Baum gestürzt.« Ich warte auf Viviennes irres Gackern, doch sie bleibt still.
Wir sitzen eine lange Zeit stumm auf der Terrasse. Ich starre in den brasilianischen Nachthimmel, der von einem milchigen Vollmond erleuchtet wird. Vivienne starrt in eine dunkle Ecke des Gartens. Dort hatten wir heute beim Unkrautjäten die mit Nadeln durchbohrte Voodoo-Puppe gefunden. Die Puppe war kurz und stämmig gewesen. Mit kurzen blonden Haaren und stahlblauen Augen. Wie Vivienne. Ich hatte das Ding zuerst entdeckt und an den Haaren aus dem krümeligen Boden gezogen. Die grellroten Lippen wirkten obszön. Die Stoffpuppe war von sieben etwa zehn Zentimeter langen Nadeln durchbohrt. Vivienne war beim Anblick der Voodoo-Puppe stocksteif geworden. Ich hatte die Puppe schwungvoll zum Unkraut in den Eimer geworfen und versucht, Vivienne mit lässigen Bemerkungen zu beruhigen.
Ob ich noch einen letzten Cocktail mixen solle, frage ich. »One for the road, Vivienne?« Vivienne schüttelt den Kopf.
Da wir den Moskitoschutz im Gästezimmer auf die Schnelle nicht reparieren konnten, hatte Vivienne vorgeschlagen, dass wir uns das große Schlafzimmer teilen. Wir duschen nacheinander und putzen uns den Alkoholgeschmack von den Zähnen. Ich bin zuerst im Bett. Vivienne hantiert mit ihrem CPAP-Gerät. Sie sieht aus wie Darth Vader, wenn sie das Ding aufhat. »Nighty night, Darth Vader«, murmele ich. »Sleep well, my friend«, nuschelt Vivienne unter ihrer Maske. Der Vollmond taucht das Zimmer in sanftes Licht. Kurz darauf schlafen wir ein.
»Krrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr. Krrrrrrr. Krrrrrrrr.«
Ich schrecke hoch. Mein Kopf dröhnt, aber nicht so sehr, dass ich das Geräusch nicht sofort erkenne. Metall auf Metall. Eigentlich eher Metall in Metall. Sacht zupfe ich Vivienne am Nachthemd. Vivienne zieht sich schlaftrunken die Darth-Vader-Maske vom Gesicht. Ich lege meinen Zeigefinger auf die Lippen und bedeute ihr, zu lauschen.
»Krrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr. Krrrrrrr.«
Vivienne hat offenbar keine Ahnung, was dieses Geräusch bedeutet. Dafür weiß ich es umso besser. Ich erkläre ihr, dass dies das Geräusch ist, wenn sich jemand am Türschloss zu schaffen macht. Vivienne versucht flüsternd, mit mir zu diskutieren und andere Geräuschquellen als Ursache anzuführen. Ich zerlege jede ihrer Theorien, und zum Schluss muss auch sie zugeben, dass sich jemand an der Haustür zu schaffen macht. Vivienne fängt an zu zittern.
Ich auch. Ich muss Vivienne gar nicht fragen, ob sie eine Waffe im Haus hat, denn sie hat keine. Nicht einmal eine Machete. Nicht, dass ich mich damit an die Haustür wagen würde. Aber nicht einmal eine Machete? In Brasilien? Grundgütiger …
Wir haben aber noch ein anderes Problemchen. Im großen Schlafzimmer funktioniert derzeit nur eine einzige Steckdose, und die wird für Viviennes CPAP-Gerät benötigt. Unsere Mobiltelefone hatten wir deshalb zum Aufladen in der Küche gelassen. Wir können also nicht einmal einen Hilferuf absetzen. Grundgütiger!
Ich sehe mich im Zimmer um und suche nach Gegenständen, die zur Verteidigung geeignet wären. Irgendwie finde ich nichts. Ich gehe ins angrenzende Badezimmer. Komme mit einem Pömpel heraus und stelle mich fragend vor Vivienne. Die sieht mich an, schüttelt dann aber den Kopf. Schließlich landet mein Blick auf zwei Weinflaschen, die zu Kerzenhaltern umfunktioniert worden waren. Ich drücke Vivienne eine der Flaschen in die Hand, doch ich sehe an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie nicht den Mut hätte, sich auch nur in die Nähe des Einbrechers zu wagen.
»Wir müssen etwas tun«, flüstere ich, »oder willst du etwa warten, bis der Einbrecher bei uns im Zimmer steht?« Vivienne zuckt hilflos mit den Schultern. Ich fasse es nicht. Ich schlüpfe aus dem dünnen Nachthemdchen und streife mir ein Shirt und eine Jogginghose über. Greife die Weinflasche. Hole leise tief Atem. »Geh nicht, Marion, bitte geh nicht!«, fleht Vivienne mich an. Das spornt mich erst recht an. Hatte ich schon erwähnt, dass ich zu Trotzhandlungen neige? Jungfrau-Geborene sind so. Sie wissen alles, und vor allem besser.
Vorsichtig öffne ich die Zimmertür, lausche in die Dunkelheit hinein. Im Moment ist es still. Ich schleiche mich zitternd den Flur entlang. Was Vivienne nicht weiß: Ich habe gar nicht vor, den Einbrecher zu stellen. Ich will in die Küche. Schnell einen Notruf mit dem Handy absetzen und mich dann verstecken. Um zur Küche zu gelangen, muss ich die Haustür passieren. Langsam, ganz langsam taste ich mich im Dunkeln den Flur entlang. Bemühe mich, kein Geräusch zu machen. Das Blut rauscht mir in den Ohren.
»Krrrrr. Krrrrrrrr.«
Da! Da war es wieder. Nur etwas ist komisch. Das kratzende Metall-an-Metall-Geräusch scheint nicht von der Haustür zu kommen. Sondern links davon. Wollte der Einbrecher etwa gar nicht durch die Haustür eindringen, sondern durch ein Fenster? Natürlich! Ich schleiche mich weiter nach vorne, bis das Flurfenster in mein Blickfeld kommt. Meine Augen sind inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, und so dauert es nicht lange, bis ich zuerst die Umrisse des Fensters und dann den Schemen hinter dem Fensterglas erkenne. Der Schemen bewegt sich. Ich fasse es nicht!
Ich husche in die Küche, greife mir unsere beiden Mobiltelefone und haste ins Schlafzimmer zurück. Vivienne hat die Decke bis unter das Kinn gezogen. »Was ist?«, fragt sie mit klappernden Zähnen. »Du erinnerst dich an die Voodoo-Puppe, die wir heute gefunden haben?«, frage ich zurück. Vivienne nickt und schlägt die Hände vors Gesicht. Ich lasse sie noch eine Weile zappeln. So bin ich halt.
»Die hat nichts damit zu tun. Du hattest heute Vormittag eine Bluse auf einen metallenen Kleiderbügel gezogen und an die blecherne Regenrinne neben der Haustür zum Lüften gehängt«, sage ich. Vivienne überlegt, dann nickt sie. Ich nicke ebenfalls. »Und du erinnerst dich, dass heute Nacht ein kleines Lüftchen aufkam?« Vivienne nickt. »Kleiderbügel aus Metall, Regenrinne aus Metall, Wind?«, versuche ich, ihr auf die Sprünge zu helfen.
Ich denke, die Caipiranhas sind schuld daran, dass Vivienne einige Sekunden braucht, um die zwingende Schlussfolgerung zu ziehen, denn sie ist ein schlaues Kerlchen. Dann gackert sie endlich ihr »Ka-ka-ka-ka-ka-ka-ka!«, kann gar nicht mehr aufhören und ich stimme ein.
Die Voodoo-Puppe, so beschließen wir, wollen wir am nächsten Tag feierlich verbrennen. Vivienne fragt, ob wir unseren Triumph über das Böse eventuell mit meinen berühmten Caipiranhas feiern könnten? »Nur, wenn du mir den Cha Cha Cha beibringst«, entgegne ich.
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