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"Schöne Sommerferien, Kind!"

  • Autorenbild: Marion Schimmelpfennig
    Marion Schimmelpfennig
  • 10. Apr.
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 6 Tagen


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Das Mädchen wippte glückselig in der Schaukel. Höher, immer höher! Beim Zurückschaukeln wehten ihr die blonden Haare ins Gesicht, beim Nachvorneschaukeln konnte sie ihr hellblaues Röckchen und ihre nackten Zehen in den dunkelroten Sandalen sehen. Es war Juli 1969, und zwei Tage zuvor hatten die Sommerferien begonnen. Es waren die zweiten Sommerferien für Karin. Nach den Ferien würde sie in die dritte Klasse kommen. Darauf freute sie sich, denn sie war eine gute Schülerin und wurde von der Lehrerin häufig gelobt. Sie freute sich jedoch auch auf die vor ihr liegende Ferienzeit: Es gab so vieles, was man tun und erkunden konnte – den Teufelsberg, den stillgelegten Bahnhof, die Süßigkeiten beim Bäcker. Die Ausflüge mit Eltern und Geschwistern. Vielleicht in den Zoo? Bestimmt würden sie auch ins Freibad gehen, und sie würde stundenlang mit ihrer Freundin Beate spielen können.


Karin bemerkte, dass sich Nachbarskinder zum Murmelspielen versammelten. Sie brachte die Schaukel zum Stehen, lief zum Haus und klingelte. Karins Mutter steckte den Kopf zum Küchenfenster heraus.


„Mama, ich brauche meine Murmeln!“


„Es gibt gleich Mittagessen. Komm jetzt rein, Karin.“


Karin lief die Stufen hinauf in die elterliche Wohnung. Der Tisch war bereits gedeckt. Mutter füllte die Teller mit dampfender Gemüsesuppe. Karin beeilte sich, denn sie wollte so schnell wie möglich zu den anderen Kindern, um beim Spiel mit den Murmeln mitzuspielen.


„Mama, wo sind meine Murmeln?“


„Du musst ein anderes Mal Murmeln spielen. Heute gibt es einen Ausflug.“


Das Wetter war herrlich, es hatte beim Mittagessen keinen Streit zwischen den Eltern gegeben – und es stand ein Ausflug an. Karin wusste, dass dies die schönsten Ferien ihres Lebens werden würden!


Der Vater musterte sein Töchterchen von oben bis unten.


„Ja, so kannst du gehen.“


„Wohin gehen wir denn, Papa?“


„Wir besuchen Tante Edith und Onkel Karl.“


Karin dachte nach: Von Tante Edith und Onkel Karl hatte sie schon gehört, aber sie konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal getroffen zu haben.


„Die haben auch Kinder. Petra und Werner“, sagte der Vater und nahm einen kleinen Koffer in die Hand, der im Flur stand.


„Komm jetzt“, sagte er zu Karin.


„Kommen Mama, Armin und Monika nicht mit?“ fragte Karin mit einem Blick auf ihre jüngeren Geschwister.


„Nein, diesen Ausflug machen nur wir beide“, antwortete der Vater und streckte seine Hand aus, die Karin bereitwillig nahm. Ein Ausflug ganz alleine mit meinem Papa, das wird toll, dachte Karin und warf ihren beiden Geschwistern einen triumphierenden Blick zu.


„Wo wohnen Tante Edith und Onkel Karl eigentlich?“ fragte Karin, während sie an der Hand ihres Vaters lief.


„In Hochzirl. Wir fahren mit dem Bus dorthin.“


Karin hüpfte vor Freude – sie war zwar schon mit dem Zug, jedoch noch nie mit dem Bus gefahren. Auf dem Weg zur Bushaltestelle kamen sie an der Bäckerei vorbei und der Vater kaufte ihr eine rot-weiße Zuckerstange.


Die Busfahrt verlief schweigend. Karin lutschte an ihrer Zuckerstange und betrachtete von ihrem Fensterplatz aus die vorbeifliegende Landschaft und Orte, die sie nicht kannte.


„Komm jetzt, wir müssen hier aussteigen“, sagte ihr Vater, als der Bus wieder einmal hielt. Die Haltestelle befand sich auf einer Landstraße und hatte ein kleines Wartehäuschen. Karin rutschte von ihrem Sitzplatz herunter.


Der Vater deutete auf das einzige Haus, das weit und breit zu sehen war: „Da vorne ist es schon.“


Tante Edith öffnete die Tür, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und sagte: „Kind, bist du groß geworden! Kommt rein, kommt rein, ich hab schon Kaffee gemacht und Nusskuchen gebacken. Du magst doch Nusskuchen, oder, Karin? Ach, der wird dir schon schmecken. Petra und Werner sind schon ganz gespannt auf dich – nicht wahr, Petra? Werner? Wo seid ihr denn? Eure Kusine Karin ist da!“ Schüchtern betrat Karin die Wohnung.


Der Nusskuchen von Tante Edith schmeckte ganz anders als der Nusskuchen zu Hause, aber nicht schlecht. Karin sah vorsichtig zu Werner und Petra hinüber. Ihr Cousin und ihre Cousine waren viel älter als sie. Werner grinste sie an, sagte aber nichts. Petra hielt den Kopf gesenkt. Die Erwachsenen unterhielten sich über Dinge, die Karin nicht verstand. Ein bisschen anders hatte Karin sich diesen Besuch dann doch vorgestellt.


„Nimm noch ein Stück Kuchen, Erwin!“ sagte Tante Edith zu Karins Vater.


„Nein, vielen Dank, ich muss jetzt wieder gehen.“


Karin atmete erleichtert auf und trank ihren Kakao aus. Als ihr Vater aufstand, tat sie es ihm gleich.


„Du kannst sitzen bleiben, Karin“, sagte Tante Edith freundlich, „denn du bleibst in den Ferien bei uns!“


Karin schoss das Blut ins Gesicht.


„Nein, ich gehe mit“, antwortete sie trotzig.


„Sei brav und mach uns keine Sorgen“, schalt ihr Vater, verabschiedete sich mit Handschlag von seinem Bruder und seiner Schwägerin und ging.


„Komm mit, ich zeige dir, wo du schläfst“, sagte Tante Edith. Sie hatte den kleinen Koffer in der Hand. Mit weichen Knien und Tränen in den Augen folgte Karin ihr in Petras Zimmer.


„Das hier ist ein Klappbett. Abends klappst du es herunter – so – und morgens machst du dein Bett und klappst es wieder hinauf, siehst du?“


Karin brachte keinen Ton heraus.


„Na ja, heute mache ich es dir. Hier im Schrank ist Platz für deine Sachen. Du kannst sie jetzt einräumen. Danach kannst du spielen.“


Karin stand bewegungslos im fremden Kinderzimmer in einer fremden Wohnung mit fremden Menschen. Mit fremdem Essen. Fremden Gerüchen. Ohne Papa. Ohne Mama.


Petra stürmte ins Zimmer, sah Karin kurz an, holte ihr Springseil aus einer Schublade und verschwand wieder. Langsam öffnete Karin den kleinen Koffer und betrachtete den Inhalt. Ein Paar Halbschuhe, Unterwäsche, Kleidung. Sie suchte nach ihren Murmeln. Keine Murmeln.


„Tante Edith“, rief sie, „habt ihr Murmeln?“


„Wozu brauchst du denn jetzt Murmeln, Kind? Hast du deine Sachen schon eingeräumt?“


Karin räumte den Inhalt ihres Köfferchens in den Schrank. Dann sah sie sich im Zimmer um. Sie entdeckte ein Regal mit Büchern und nahm eines heraus – „Mondjunge und Himmelhund“ hieß es. Sie kauerte sich in eine Ecke am Boden und begann zu lesen. Ihr kleiner Brustkorb hob und senkte sich, heiße Tränen kullerten ihre Wangen hinab.


Karin hatte bereits ein gutes Stück im Buch gelesen, als Tante Edith erneut das Kinderzimmer betrat.


„Bald gibt es Abendbrot, Karin“, kündigte sie an, „zuvor wird gebadet. Du weißt ja, Samstag ist Badetag.“


„Ich will nicht baden, Tante Edith, ich bin sauber.“


„Samstags wird gebadet, mein Kind.“


„Ich will aber nicht!“


„Das werden wir ja sehen.“


Tante Edith nahm Karin an der Hand und zog sie hinter sich her ins Badezimmer.


„Zieh dich aus. Ich lasse in der Zwischenzeit Badewasser ein. Du bekommst auch einen schönen Badeschaum.“


Karin rührte sich nicht. Tante Edith seufzte und begann, ihre Nichte zu entkleiden.


„Ich will nicht baden!“ weinte Karin, die eigentlich gerne mit Badeschaum badete – nur eben nicht vor fremden Menschen.


„Meinetwegen, meinetwegen“, entgegnete Tante Edith, und Karin schöpfte Hoffnung, aber dann wurde sie unter den Achseln gepackt, in die Badewanne gesteckt und mit der Handbrause abgeduscht.


Das Duschen war noch schlimmer, denn im Badewasser hätte sie ihre Nacktheit wenigstens im Badeschaum verstecken können. Sie heulte, schluchzte und schämte sich ob ihres unbedeckten Körpers in Grund und Boden.


Nach dem Duschen musste sie ihren Schlafanzug anziehen und wurde an den Abendbrottisch gebeten. Tante Edith tat so, als sei nichts geschehen. Aber Onkel Karl, Werner und Petra starrten sie an. Tante Edith machte Karin ein Schinkenbrot zurecht und legte es auf ihren Teller.


„Ich hab was!“ sagte Werner triumphierend und holte einen Kassettenrekorder hervor. Er grinste und drückte auf eine Taste. Karin vernahm ein Weinen. Ihr eigenes Weinen. Die Stimme von Tante Edith. Das Wasser der Brause. Alle am Tisch lachten. Nur Karin nicht.


„Schalte das aus!“ bat sie ihren Cousin, während erneut Tränen ihre Wangen hinunterliefen, „bitte!“


Werner beachtete sie nicht. Er klatschte sich vor Lachen auf die Schenkel und ließ die Tonbandaufnahme bis zum Ende abspielen.


„Komm, Karin, der Werner hat doch nur einen Spaß gemacht“, versuchte Tante Edith zu besänftigen. Onkel Karl sagte nichts.


In dieser Nacht weinte sich Karin in den Schlaf. Petra, die am anderen Ende des Zimmers schlief, bemerkte nichts davon.


Es vergingen viele Tage. Onkel Karl war fast nie zu Hause, denn er musste arbeiten. Werner war auch fast nie zu Hause, denn er war mit seinen Freunden unterwegs. Petra war ebenfalls fast nie zu Hause, denn sie war mit ihren Freundinnen zusammen. Tante Edith war den ganzen Tag zu Hause. Sie wusch Wäsche, hing sie zum Trocknen auf, bügelte sie, putzte die Wohnung, kochte und spülte das Geschirr. Karin las. Und dachte nach.


„Heute kommst du wieder nach Hause, Kind“, sagte Tante Edith eines Morgens. „Du kannst schon einmal deinen Koffer packen und ihn an die Haustür stellen.“


„Wann kommt mein Papa?“ fragte Karin.


Tante Edith sah auf die Küchenuhr. „Um elf kommt der Bus. Wir essen noch zusammen zu Mittag und trinken zusammen Kaffee, dann fahrt ihr mit dem Abendbus nach Hause.“


Karins Augen leuchteten auf. Dann zogen sie sich zu schmalen Schlitzen zusammen. Sie ging zum Schrank, packte ihre Habseligkeiten in den kleinen Koffer und verschloss ihn. Aus ihrer Rocktasche holte sie ein zusammengefaltetes Blatt Papier und legte es in den Schrank. Sie nahm den Koffer und stellte ihn an die Haustür. Dann ging sie zurück in die Küche und half Tante Edith bei den Vorbereitungen zum Mittagessen. Darüber freute sich Tante Edith, denn dies hatte Karin bis dahin noch nicht freiwillig getan.


Alle paar Minuten sah Karin auf die Uhr, die an der Wand hing. Als es endlich zehn Minuten vor elf war, sagte sie: „Ich hole Papa vom Bus ab!“


„Mach das, mein Kind, du warst heute ja schon fleißig“, antwortete Tante Edith gerührt. Dann knetete sie weiter den Nudelteig.


Karin lief zur Haustür, nahm den Koffer in die Hand und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Dort angekommen, setzte sie sich nicht auf die hölzerne Bank, sondern verschwand hinter dem Wartehäuschen. Vom Bus aus konnte man sie nun nicht mehr sehen. Karin musste nicht lange warten, bis der Bus ankam, in dem ihr Vater saß. Karin hörte, wie der Bus anhielt und sich die Tür mit einem Zischen öffnete. Sie blickte vorsichtig hinter ihrem Versteck hervor. Ihr Vater war ausgestiegen. Als er ihr den Rücken zugewandt hatte, verließ Karin ihr Versteck und ging auf die geöffnete Bustür zu.


„Nach Mutters bitte“, sagte Karin mit fester Stimme und hielt dem Busfahrer einige Münzen hin. Die Münzen hatte sie aus Petras Sparschwein, das mit einer Haarnadel leicht zu öffnen gewesen war. Der Busfahrer nahm die Münzen entgegen, drehte an einigen Rädchen seiner Fahrkartenmaschine und gab Karin eine Fahrkarte und Wechselgeld. Karin setzte sich auf einen freien Platz, ihr Köfferchen neben sich. Dann setzte sich der Bus in Bewegung.


Nach einer langen Zeit – es kam Karin viel länger vor als beim ersten Mal – hielt der Bus in ihrer Heimatstadt. Sie erkannte die Bushaltestelle, an der sie mit ihrem Vater eingestiegen war. Erleichtert verließ sie den Bus und lief nach Hause. Es war so schön, wieder die bekannten Straßen zu sehen. Nachbarskinder spielten mit Murmeln – wie beim letzten Mal. Karin klingelte an der elterlichen Wohnung, und kurz darauf streckte ihre Mutter den Kopf aus dem Küchenfenster.


„Mama, ich bin wieder da!“ rief Karin. „Ich brauche meine Murmeln!“


Karins Mutter gab einen furchterregenden Schrei von sich, dann schloss sich das Küchenfenster, und kurze Zeit später öffnete sie die Haustür, um Karin fest in die Arme zu nehmen. Karin erfuhr von ihrer schluchzenden Mutter, dass man ihren handgeschriebenen Zettel im Schrank gefunden hatte, auf welchem sie erklärt hatte, sich im Weiher auf der gegenüberliegenden Straßenseite ertränken zu wollen. Um sicherzugehen, dass sie untergehen würde, wollte sie sich ihren Koffer mit Schnüren am Körper befestigen. Ihr Vater hatte sich zusammen mit Onkel Karl sofort auf den Weg zum Weiher gemacht. Karl hatte seinem Bruder noch zugerufen, dass sich ein Lastwagen näherte und er warten solle, bevor er die Straße überquerte, doch es war bereits zu spät. Der Lastwagen traf Karins Vater mit voller Wucht. Er war auf der Stelle tot gewesen. Karin senkte den Blick.


„Heißt das, ich darf heute nicht mit meinen Murmeln spielen?“ fragte sie.


(Dies ist ein autobiografischer Text. Nur das Ende ist frei erfunden. --- Erst Jahrzehnte später wurde mir bewusst, welche seelischen Wunden mir dadurch entstanden waren. Und natürlich konnte ich sie erst dann heilen. Heute begleite ich Menschen auf diesem Weg. Klicke hier, wenn du mehr wissen möchtest.)

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