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Die Zeit bleibt stehen

  • Autorenbild: Marion Schimmelpfennig
    Marion Schimmelpfennig
  • 17. Apr.
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 6. Aug.


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Sie hatte sich vorbereitet. Oh, wie sie sich vorbereitet hatte! Über Monate hinweg hatte sie jeden Tag mehrere Stunden meditiert. Morgens nach dem Aufstehen, wenn der Rücken schmerzte, ihre Glieder steif und der Durst unerträglich waren. Mittags, wenn sie den schalen Geschmack des abgestandenen Essens noch auf der Zunge hatte. Abends, wenn sich langsam Stille ausbreitete und die Schatten der Dunkelheit zu ihr vordrangen.


An den Abenden war ihr das Meditieren schwer gefallen. Kaum hatte sie einen Zustand der Entspannung erreicht, wurde die Stille von scharfen metallischen Klängen unterbrochen und sie musste von vorn beginnen. Erst mit der Zeit hatte sie gelernt, diese verstörenden Unterbrechungen in ihre Meditation einzubauen. Jedes Zerreißen der Stille wurde zu ihrem Signal, noch tiefer in die Entspannung hineintauchen zu dürfen. Auf diese Weise erreichte sie nach einiger Zeit des Übens eine Tiefenentspannung, die sie nie zuvor erfahren hatte. Und in diesem zutiefst entspannten Zustand nahm sie eines Abends etwas ganz Ungewöhnliches wahr. Einige Zentimeter über ihrem linken inneren Auge entdeckte sie eine kleine runde Öffnung, die zwar schwach, aber verheißungsvoll schimmerte. „Tritt ein, tritt ein“, schien diese zu hauchen. Sie manövrierte ihr Bewusstsein bis zur Öffnung und versuchte, das Dahinterliegende wahrzunehmen. Es gelang ihr nicht.


Dann ging alles ganz schnell. Im nächsten Augenblick hatte sie die Öffnung passiert – war sie selbst es gewesen oder war sie hineingesogen worden? – und fand sich in einer Umgebung wieder, in der zwar alles existierte, in der jedoch nichts von Bedeutung war und in der nichts Konsequenzen hatte. Die Zeit war stehengeblieben.


Dieser Bewusstseinszustand hatte zwei unmittelbare Folgen: Ihr Körper entspannte noch mehr, und ihr Bewusstsein erfuhr ein Gefühl des Friedens, das sie nie für möglich gehalten hätte.


In der Folge erweiterte sie ihr Trainingspensum und verbrachte so viel Zeit wie möglich in diesem zeitlosen Zustand. Während sie zu Anfang noch Minuten brauchte, gelang es ihr mit der Zeit, diesen Bewusstseinszustand nahezu auf Knopfdruck herbeizuführen. Noch später lernte sie, dies auch im Rahmen von alltäglichen Handlungen zu tun. Sie war bereit. Heute war der Tag. Ihre Gedanken waren klar. Ihr Puls war normal. Sie war stark. Sie war ruhig.


Noch achtzehn Stunden. Achtzehn Stunden sind eine sehr lange Zeit. So lange hatte es gedauert, um von Newark nach Singapur zu fliegen, um Jiahao zu treffen. Achtzehn Stunden zum Sitzen und Nichtstun verdammt. Der ständige Blick auf die Uhr. Fünf Minuten fühlen sich wie eine Stunde an. Die Unfähigkeit, länger als eine Viertelstunde am Stück zu schlafen. Eine Beutelratte müsste man sein. Eine Beutelratte verschläft achtzehn Stunden eines Tages. Das wäre an einem Tag wie heute allerdings eine Verschwendung. Sie würde keine Minute verschwenden. Entschlossen erhob sie sich, ging mit festen Schritten zum Tisch, setzte sich und begann zu schreiben. „Liebe Mutter, es geht mir gut.“ Ein paar Minuten des Zögerns, dann begann es aus ihr herauszufließen.


Vier Stunden später. Sie hob ihren Kopf, den sie tief über den Tisch gebeut hatte, legte ihn in den Nacken, massierte ihre Augenlider. Sie faltete zwei handgeschriebene Blätter zusammen, steckte sie in einen Umschlag, beschriftete ihn und legte ihn auf den Stapel mit den bereits fertiggestellten Briefen. Noch vierzehn Stunden. Vierzehn Stunden sind eine sehr lange Zeit. Vierzehn Stunden hatte es gedauert, um mit Jiahao von Newark nach Nags Head in North Carolina zu fahren. Es wäre besser gewesen, wenn sie diese Fahrt nie unternommen hätte. Vierzehn Stunden entsprechen fünfzigtausend und vierhundert Sekunden. Sie versuchte, sich vorzustellen, in Gedanken bis fünfzigtausend und vierhundert zu zählen. Eine Ewigkeit! Sie hatte also eine Ewigkeit vor sich. Eine Zukunft. Gut so. Sie schrieb weiter.


Mit jedem Brief, den sie versiegelte, breitete sich Ruhe in ihr aus. Mit jedem Satz, den sie vollendete, spürte sie Zufriedenheit. Mit jedem Wort, das sie schrieb, wurde ihr ihr unendliches Dasein bewusst. Und mit jedem Gedanken, der sich in ihr formte, entspannte sie sich und drang zu längst Vergessenem vor. Der Samstagabend, als ihre Schwester geboren wurde. Sie rechnete nach: Sie war damals erst zwei Jahre alt gewesen. Ein zweijähriges Kind kann sich an solche Erlebnisse normalerweise nicht erinnern. Sie sah jedoch alles ganz genau vor sich. Den Blümchenschlafanzug, den sie trug. Den nervösen Vater, der ihre fragenden Blicke übersah. Die geschäftige Hebamme, die an diesem Abend das Regiment führte. Und dann die ärgerliche Nachricht, dass sie ein Schwesterchen bekommen hatte.


Noch zwölf Stunden.

Noch acht Stunden.

Noch fünf Stunden.

Noch drei Stunden.

Noch eine Stunde.


Wie hatte aus einer Ewigkeit von vierzehn Stunden eine einzige Stunde werden können? Sie nahm den Stapel Briefe und formte einen perfekten Quader daraus. Sie hörte Schritte. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie holte tief Atem, stieß den Atem machtvoll aus und wiederholte dies mehrere Male. Sie suchte die verheißungsvolle Öffnung vor ihrem inneren Auge, fand sie und trat ein. Alles gut. Die Zeit war stehengeblieben, nichts hatte eine Bedeutung mehr.


Die Tür wurde geöffnet. Zwei Männer traten ein. Zwei weitere Männer standen draußen auf dem Gang und beobachteten sie. Mit einer Handbewegung bedeutete ihr einer der Männer, sich umzudrehen. Sie tat, wie ihr geheißen. Kaltes Metall berührte ihre Handgelenke, dann wurde sie links und rechts an den Armen genommen und aus dem Raum geleitet. Es hatte keine Bedeutung. Sie blickte den langen Gang entlang. Die Männer setzten sich in Bewegung und sie mit ihnen. Ein Schritt nach dem anderen. Immer ein Schritt nach dem anderen. Sie schwebte. Sie war voller Kraft und Zuversicht. Links um die Ecke, einen weiteren Gang entlang. Eine Verbindungstür passieren. Weiterschweben. Noch eine Tür passieren, aber dieses Mal eine schwere massive Metalltür. Sie wurde hindurchgestoßen – und stand plötzlich im Freien.


Die frische Luft auf ihren Wangen. Über ihr der sternenbehangene Himmel. Tief, ganz tief sog sie die laue Nachtluft ein. Sie wurde am Arm gepackt und über den Hof gezerrt. Es hatte keine Bedeutung. Einer der Männer verband ihr die Augen mit einem Tuch. Es hatte keine Bedeutung. Sie wurde mit dem Rücken an eine Wand gestellt. Es hatte keine Bedeutung. Das Blut schoss ihr in den Kopf. Es hatte keine Bedeutung! Es hatte keine Bedeutung! Ihr Magen verkrampfte sich zu einem glühenden Ball. Ihre Knie begannen zu zittern, dann ergriff das Zittern ihren gesamten Körper. Es hatte keine Bedeutung – es durfte keine Bedeutung haben! Sie begann zu wimmern. Ihre Zähne schlugen wie wild aufeinander.


Sie stand dort eine Ewigkeit. Dann hallten Schüsse durch die Nacht. Dann blieb die Zeit endlich stehen.

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