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Es ist ganz einfach

  • Autorenbild: Marion Schimmelpfennig
    Marion Schimmelpfennig
  • 31. Juli
  • 4 Min. Lesezeit

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Neben mir malt jemand konzentriert an einer Leinwand, die Farben fließen ineinander, Formen entstehen, das Bild füllt sich sichtbar. Ich dagegen blicke auf meinen noch immer weißen Bildschirm, der sich standhaft weigert, von selbst eine Geschichte zu schreiben. Wie hatte unser Nachbar Willi vor Kurzem im Dorf herumerzählt? »Die Marion arbeitet doch gar nicht richtig, die tippt nur ab und zu auf dem Computer rum.« Vielen Dank auch, Willi.


»Grasdackel«, murmelt mein Gegenüber, wenn das Gespräch auf unseren Nachbarn kommt, der als Rentner alle Zeit der Welt hat und diese mit Vorliebe bei seiner aus Polen stammenden vollbusigen Hausärztin verbringt, was diese neuerdings mit »Aben Sie nix, Err Börrrner! Sind Sie kerrrngesund! Stellen Sie mir nischt mein Seit! Wohlen andere auch drahnkohmen!« quittiert, was Willi wiederum dazu veranlasst, sich bei mir über Frau Doktor »Schablonski« zu beschweren. »Pfeif‘ der Hund am Bussi«, kommentiere ich üblicherweise seine Tiraden. Das hatte meine Oma immer gesagt, weil sie als Dame von Welt »Leck mich am Oarsch« nicht aussprechen wollte. Sie hatte noch viele andere Lebensweisheiten parat, um Leute zu beleidigen, ohne dass diese es merkten. Ich habe nie herausgefunden, was meine Oma geritten oder getrunken hat, dass sie ein solches Gegeifere erfinden konnte. Sie war im eisigen Winter 1944/45 mit ihren zwei kleinen Mädchen aus dem Egerland nach Öhringen geflohen. Vielleicht hatte sie dabei das Fluchen gelernt.


Wenn Willi mir gerade nicht auf die Nerven geht – »Majonn! Hosch gschwend Zeit?« – repariert er seinen alten Daimler. Mit Handbuch. Die meisten Seiten dieses Handbuchs bestehen aus Schimpfwörtern. Keine Ahnung, was Mercedes-Benz sich dabei gedacht hat. »Pfeif‘ der Hund am Bussi!« rufe ich Willi freundlich winkend zu, der gerade wieder einmal an unserem Fenster vorbeischleicht.


Ja, so bin ich halt. Schlimmer noch, eigentlich. Es gibt die angenehmen Menschen und die unangenehmen. Ich gehöre zu den unangenehmen. Dabei bin ich ziemlich schlau. Aber da geht’s schon los. Ist einer angenehm, wenn er schlau ist? Oder ist er vielleicht unangenehm, gerade weil er schlau ist? Was dem einen sein Nirwana, ist dem andern das Samsara, und falls Sie nicht wissen, was das eine oder andere ist, nehmen Sie um Gottes Willen stattdessen einfach Himmel und Hölle. Das passt schon irgendwie.


Wenn Sie ein Kind haben und Ihr Kind stets nach dem »Warum« fragt, sobald Sie ihm etwas auftragen oder verbieten, machen Sie sich bitte bewusst, dass zwar die meisten Kinder tatsächlich nur deshalb »warum?« fragen, weil sie Zeit schinden oder dem Unausweichlichen ausweichen wollen, es aber durchaus Kinder gibt, deren Glückseligkeit davon abhängt, ob sie eine einleuchtende Antwort erhalten oder nicht.


Sie haben ganz richtig gelesen: deren Glückseligkeit! Und falls Sie wissen möchten, ob Ihr Kind in die eine oder andere Kategorie gehört, machen Sie doch einfach die Probe aufs Exempel. Wenn Sie Ihrem Kind eine nachvollziehbare Antwort liefern – sie darf gern in der Erwachsenensprache gegeben werden – und die Augen Ihres Kindes daraufhin leuchten, haben Sie wahrscheinlich ein kleines Genie vor sich. Das heißt natürlich nicht, dass Ihr Kind dann tut, wie ihm geheißen. Ich spreche da aus Erfahrung.


Machen Sie sich bitte auch bewusst, dass Ihr kleines Genie mit seinem »warum« etwas getan hat, wozu Sie selbst bisher nicht willens gewesen waren: auf Augenhöhe zu kommunizieren. Sollte Ihnen der Begriff »auf Augenhöhe« unpassend erscheinen, weil Ihr Kind doch noch so klein und unerfahren ist, ersetzen Sie ihn einfach durch »ehrlich«. Durch aufmerksames Beobachten können Sie schon früh feststellen, ob Ihr Kind eher belogen werden oder lieber die Wahrheit wissen möchte.


Als Eltern eines Säuglings werden Sie hin und wieder den Wunsch nach Abwechslung und Entspannung in Form eines Abends außer Haus verspüren. Verständlich. Verantwortungsvoll, wie Sie sind, werden Sie an diesem Abend Ihren Goldschatz füttern, ihm eine frische Windel anlegen, die Temperatur im Kinderzimmer überprüfen, den Raum noch einmal lüften, den Babysitter instruieren, zur Sicherheit noch das Babyphone einschalten und das Mäuschen in sein Bettchen legen. Sie werden ihm wie jeden Abend noch eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen, und nach kurzer Zeit wird sich das Köpfchen müde zur Seite neigen und Ihnen mit tiefen Atemzügen anzeigen, dass es eingeschlafen ist. Sie werden sich aus dem Zimmer schleichen, sich gegenseitig versichern, dass alles in Ordnung sei und das Würmchen nun durchschlafen werde – wie jede Nacht, denn Ihr Kind ist glücklicherweise sehr brav.


An den ersten paar Abenden wird dies auch so sein, doch dann wird sich etwas verändern. Sobald Sie nach dem Vorbereitungsritual zum Hausschlüssel greifen, ertönt aus dem Kinderzimmer »Mama?«. Sie sind überrascht, und Ihnen wird bewusst, dass es jetzt knapp werden könnte mit der Verabredung, denn jetzt müssen Sie dem kleinen Schatz noch ein Schlückchen Tee einflößen, noch ein bisschen vorlesen, ihm die Wange tätscheln und ihm versichern, dass Mama und Papa gleich nebenan im Wohnzimmer seien. Dann starten Sie den nächsten Versuch. Sie halten Ihre Schuhe in der Hand und den Atem an, und Sie bewegen sich so leise, dass nicht einmal Sie selbst ein Geräusch hören. Alles umsonst. »Papa?« Sie wiederholen dieses Szenario noch ein- oder zweimal, und weil das Ergebnis jedes Mal das Gleiche ist, geben Sie Ihr Vorhaben schließlich auf.


Das ist für Sie aus zweierlei Gründen frustrierend. Erstens entgeht Ihnen ein lustiger Abend, den Sie bitter nötig gehabt haben, und zweitens können Sie sich nicht erklären, wie es Ihrem Engel gelungen war, Ihre Scheinheiligkeit zu durchschauen. Versetzen wir uns deshalb in die geistige Welt Ihres Nachwuchses: Der abendliche Geruch von Rasierwasser, Parfum, das Rascheln im Kleiderschrank, die vor Vorfreude aufgeregten Stimmen der Eltern hatte Ihr Spatz – so klein, wie er war – mit anderen Abenden in Verbindung gebracht, an denen die Eltern den Wunsch verspürt hatten, sich bedrohlich weit von ihrem Kind zu entfernen. Die im Gegensatz zu normalen Abenden überschwänglichen Zuwendungen hatten das Kind in seinem Verdacht bestärkt. Die zuvor nicht vorstellbare Vorstellung, dass die Eltern ihre Fürsorgepflicht missachten könnten, nahm immer größeren Raum in der kindlichen Gedankenwelt ein und führte dazu, dass das Kind schließlich auch in Betracht zog, dass die Eltern nicht zurückkehren könnten. Strahlend und siegreich liegt das Herzchen in seinem Bettchen. Es hat Sie durchschaut. Und das vielleicht schon im zarten Alter von sechs Monaten.


Sollten Sie mit Ihrem Goldschatz also etwas in dieser Art erlebt haben, versteht es sich von selbst, dass Sie im eigenen Interesse auf weitere betrügerische Aussagen und Handlungen verzichten sollten. Es ist eigentlich ganz einfach.


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