Der Dämon von Mysuru
- Marion Schimmelpfennig
- 27. März
- 11 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 6. Aug.
Dies ist die Geschichte von Ravi, Rashmi und Kirana. Vor Monaten hatten diese Kinder in Indien Schlagzeilen gemacht. Allerdings nur für kurze Zeit – nach wenigen Tagen war der Fall aus den Zeitungen verschwunden. Im Internet findet man ebenfalls nichts mehr dazu. Versuchen Sie es ruhig – Sie werden nicht fündig werden. Auch die Kinder selbst sind nicht mehr zu befragen, da man sie an einen unbekannten Ort verbracht hat. Das ist umso bedauerlicher, weil die Geschichte dieser Kinder wirklich außerordentlich ist.
Ich war Zeuge der Ereignisse gewesen, die sich nahe des Dorfes Bēṭenāyi abgespielt hatten. Genau genommen hatte ich diese Ereignisse ausgelöst, doch weil ich bereits einen neuen Auftrag vorliegen hatte, war ich aus der Gegend verschwunden, bevor die indischen Behörden auf mich aufmerksam und meiner habhaft werden konnten.
Nach meinen Recherchen und Berechnungen mussten Ravi, Rashmi und Kirana im Jahr 938 geboren worden sein, denn sie berichteten mir, dass sie vor ihrem Verschwinden beim Neubau eines Tempels geholfen hatten. Butaga der Zweite, so fand ich mit Hilfe meines Smartphones rasch heraus, ein Herrscher der westlichen Ganga-Dynastie, hatte in dieser Region tatsächlich einen Tempel errichten lassen und ihm den wohlklingenden Namen «Arakeshvara» gegeben. Die Kinder nickten eifrig, als ich den Namen des Tempels nannte. Das war im Jahr 950, und da ich die Kinder auf zwölf Jahre schätzte, konnte ich ihr Geburtsjahr recht genau bestimmen.
Da standen wir nun, die drei Kinder und ich, und wussten erst einmal nichts zu sagen. Dass ich einem dünnen schwarzen Kästchen mit spiegelnder Oberfläche mit wenigen Fingerbewegungen Informationen entlocken konnte, schien die Kinder nicht weiter zu beunruhigen. Fasziniert beäugten sie hingegen mein Propellerflugzeug. Und so kam es, dass die Kinder mit weit aufgerissenen Augen das riesige, spiralförmige Feld wilder Sonnenblumen aus luftiger Höhe bestaunten und mit weit aufgerissenem Mund meine Schokoriegel und Kartoffelchips verspeisten. Meine Befürchtung, dass ihnen aufgrund des Schaukelns oder der ungewohnten Nahrung schlecht werden könnte, bewahrheitete sich glücklicherweise nicht. Während wir bei strahlendem Sonnenschein eine Runde nach der anderen drehten, erzählten mir die Kinder ihre Geschichte.
Ravi begann als erster zu erzählen, denn er war zuerst verschwunden. Es sei ein sonniger Tag wie heute gewesen, begann Ravi, und das riesige Feld mit den wilden Sonnenblumen sei von einem Tag auf den anderen da gewesen. Jedenfalls könne er sich nicht erinnern, es jemals zuvor gesehen zu haben. Es sei ihm schon ein wenig komisch vorgekommen, dass Sonnenblumen in so kurzer Zeit so schnell wachsen und dann auch noch in voller Blüte stehen konnten, gab er zu, doch das bis zum Horizont reichende sonnengelbe Blütenmeer, dem der Sommerwind sanfte Wellen hineinzauberte, sei ihm so prachtvoll und majestätisch erschienen, dass er den Gedanken bald vergaß. Weit drinnen im Feld, gerade noch mit dem Auge erkennbar, habe ein dickes Büschel besonders hochgewachsener Sonnenblumen herausgeragt. Diese hätten magisch geglitzert und sich derart betörend im Wind gewiegt, dass er geglaubt hatte, sie würden ihn zu sich her winken. Ich sah Ravi mit hochgezogenen Augenbrauen an. Ravi nickte reuig. Leider habe er das Sonnenblumenfeld betreten und sich so lange zwischen den hohen Stängeln hindurchbewegt, bis er bei den verheißungsvoll wedelnden Sonnenblumen angekommen war. Zunächst sei nichts passiert und er wollte schon enttäuscht kehrt machen, als sich die Sonnenblumen plötzlich einander zuneigten, miteinander verschmolzen und sich dann zu seinem grenzenlosen Schreck in einen Büffel mit bärtigem Menschenkopf verwandelten. Er habe sofort geahnt, was das bedeutete, erklärte Ravi und machte ein furchtbar unglückliches Gesicht. Rashmi und Kirana verbargen ihr Gesicht in den Händen. Mir war auch danach, aber ich musste ja mein Flugzeug lenken. Ravi schluckte und sah nach unten auf das Sonnenblumenfeld, das wir nach wie vor umkreisten.
Es habe nicht wehgetan, fuhr Rashmi an Ravis Stelle fort, als der Büffel ihn verschlang und gleich hinten wieder ausschied, jedenfalls nicht körperlich. Während er so durch den Schlund, die vielen Mägen und den Darm des Büffelmenschen gedrückt wurde, wusste er bald nicht mehr, wo oben, unten, links oder rechts war, und als er schließlich durch den Anus gerutscht war, hatte er noch einen letzten klaren Gedanken, bevor ihn komplette geistige Verwirrung umfing: Er war soeben vom Büffeldämon Mahisasur verschlungen worden, dem nachgesagt wurde, sein äußeres Erscheinungsbild nach Belieben ändern zu können und der danach trachtete, Ignoranz und Chaos zu säen, was alles schon schlimm genug war, denn seine Eltern würden sich furchtbare Sorgen machen, wenn er nicht nach Hause käme, aber das Schlimmste war, dass es den Büffeldämon gar nicht mehr hätte geben dürfen, weil ihn die Göttin Durga doch vor langer Zeit erschlagen hatte.
Ravi und Kirana hatten stumm gelauscht und nickten. Mir wurde es jetzt ein bisschen zu viel, und so entschied ich, das Flugzeug zu landen. Als die Propellermaschine am Rand des Sonnenblumenfeldes zum Stehen gekommen war, verteilte ich Getränke an die Kinder und nahm selbst auch einen Schluck. Kirana, die bisher nicht viel gesagt hatte, ergriff das Wort. Sie habe sich, nachdem sie den Körper des Büffeldämons über dessen Hinterausgang verlassen hatte, so klein wie eine Ameise gefühlt. Hilflos sah sie mich an. Hilflos zuckte ich mit den Schultern und fragte sie, weshalb sie das gedacht hatte. Ihre schwarzen Augen, die ohnehin schon groß waren, wurden noch etwas größer, und dann erzählte sie, dass die Felsbrocken, die überall herum lagen, ganz offenbar keine Felsbrocken waren, sondern Erdkrümel und Sandkörner. Und die Riesenpython, die sich gerade aus dem Erdreich wühlte, war ganz offenbar ein Regenwurm. Sie habe dann Ravi und Rashmi entdeckt, die im selben Dorf wohnten und die genauso winzig waren wie sie und sei zu ihnen hingelaufen, weil sie ganz verwirrt war und Trost und Antworten suchte. Kirana lief eine dicke Träne übers Gesicht. Ravi streichelte unbeholfen ihre Schulter. Kiranas kleiner Brustkorb hob und senkte sich, und mit einem schmerzerfüllten Seufzer wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht.
Das mit den Antworten habe leider nicht funktioniert, fuhr Ravi fort, denn erstens hatten sie ja selbst verzweifelt nach Antworten gesucht, und zweitens hatte der Büffeldämon ihren Geist derart ins Chaos gestürzt, dass sie zu keinem vernünftigen Gedanken mehr fähig gewesen waren. In der Folge seien sie ziemlich kopflos über die Felsbrocken gestolpert und angstvoll jeder Schlange und jedem zähnefletschenden Monster ausgewichen. Im Nachhinein, erklärte Ravi, sei ihm erst so richtig klar geworden, dass es sich bei den zähnefletschenden Monstern um verschiedene Käferarten gehandelt habe. Um und Ameisen, fügte Kirana hinzu, die sich inzwischen wieder etwas gefangen hatte. Ich kratzte mich nervös am Kinn. Was sie denn die über tausend Jahre – es fiel mir recht schwer, diesen Satz wirklich auszusprechen – so gemacht hatten, wollte ich wissen. Die drei sahen mich verständnislos an. Sie seien den ganzen Tag einfach hin und her gelaufen, erklärte Ravi. Etwas anderes hätten sie ja nicht tun können, fügte Rashmi schulterzuckend hinzu. Bis auf die Botschaften, warf Kirana ein, deshalb hätten sie die Hoffnung auch nie aufgegeben.
Ich war froh, dass die Kinder das mit den Botschaften selbst zur Sprache gebracht hatten, denn ich war inzwischen nicht mehr sicher, ob ich den Verstand verloren hatte, träumte oder in einer fremden Dimension gelandet war. Die Botschaften waren historisch recht gut belegt. Sie hatten einige Monate nach dem Verschwinden der Kinder begonnen und – so wurde es überliefert – die Menschen in dieser Region damals in tiefe Verzweiflung gestürzt, da die Kinder in den Botschaften ihre Namen genannt hatten. Die Botschaften kamen in unregelmäßigen Abständen – meist alle ein oder zwei Jahre, selten alle paar Monate. Sie waren kryptisch. Zu entziffern, aber dennoch kryptisch. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen, was «Ihr betrachtet die Sterne am falschen Ort» oder «Seht doch, was ihr mit euren Füßen tretet» bedeuten sollte. Zugegeben, ich hatte auch keine Ahnung, null Ahnung sogar, aber diese Botschaften waren eines der letzten ungelösten Rätsel der Menschheit – oder so redete ich mir ein – und ich wollte derjenige sein, der dieses Rätsel löst.
Die Botschaften wurden der Legende nach telepathisch übermittelt. Ich könnte mir vorstellen, dass der jeweilige Empfänger mitten auf der Straße so etwas wie einen Stromschlag erhielt, vor Schreck steif wurde, die Augen verdrehte, die Botschaft in seinem Gehirn empfing und dann völlig aufgeregt nach Hause lief, um die Neuigkeit zu verbreiten. So kryptisch diese Nachrichten auch waren – eines hatten sie gemeinsam. Sie ereigneten sich nur dann, wenn jemand am Feld mit den wilden Sonnenblumen vorbeiging. Aber auch dann nicht immer, sonst könnte man mit den Botschaften Bände füllen und die Verwirrung wäre komplett. Ich hatte mir, soweit verfügbar, von den Empfängern der Botschaften alle Kriterien notiert, die mir nützlich erschienen, und versucht, Gemeinsamkeiten zu entdecken, dir mir bei der Lösung des Rätsels hätten behilflich sein können. Ich beschrieb den Kindern mein Vorgehen. Sie begannen lauthals zu lachen. Sie hätten einfach jeden genommen, den sie gerade erwischen konnten, sagte Ravi. Viele konnten sie leider nicht erwischen, fügte Rashmi hinzu, vor allem deshalb, weil sie nur sehr selten einen geistigen Zustand erreichten, der es ihnen erlaubte, einen halbwegs vernünftigen Gedanken zu formulieren. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Übertragung eines telepathischen Gedankens gar nicht so einfach gewesen sei. Jeder von ihnen musste zur selben Zeit geistig einigermaßen «da» sein, dann mussten sie sich auch noch über den Inhalt der Botschaft einig werden und schließlich zur selben Sekunde mit aller Macht diesen Gedanken verschicken – alles in der Hoffnung, dass gerade jemand am Sonnenblumenfeld vorbeilief.
Jetzt wurde mir so einiges klar. Auch die Botschaft «Lasst uns nicht im Regen stehen, ihr Gehirnlosen!» erhielt nun einen gewissen Sinn. Ob sie diese Nachricht zur Regenzeit verschickt hätten, wollte ich wissen. Allseitiges Kopfschütteln. Sie hätten diese Botschaft zwar tatsächlich zur Regenzeit entworfen, erklärte Ravi, aber Rashmi sei kurz vor der telepathischen Übertragung wieder in sein chaotisches Bewusstsein gestürzt, sodass die Übertragung habe verschoben werden müssen. Weil es oft recht lange dauerte, bis man sich auf eine Nachricht geeinigt hatte, hätten sie der Einfachheit halber die letzte gemeinsam erarbeite Botschaft verwendet. Hauptsache, sie hätten mal wieder eine Nachricht verschickt.
Mich beschlich der Gedanke, dass das Wiedererscheinen der Kinder nicht auf deren und meinem Können beruhte, sondern schlicht und ergreifend auf glücklichen Umständen. Das war doch so, oder? Nun ja, ein bisschen Gehirnschmalz war auch dabei gewesen, befand ich. Eigentlich nicht wenig davon. Die Kinder hatten jede Gelegenheit genutzt, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Und ich war immerhin der Einzige gewesen, der auf die Idee gekommen war, den riesigen Teppich wilder Sonnenblumen abzufliegen.
Als ich die Sonnenblumen das erste Mal überflog, bemerkte ich nichts Außergewöhnliches, aber meine Flugerfahrung sagte mir, dass ich diesen Bereich aus verschiedenen Höhen betrachten sollte. Ich hatte inzwischen eine Flughöhe von sechstausend Metern erreicht und entdeckte, dass die Sonnenblumen keineswegs so angeordnet waren, wie man sich ein wildes Sonnenblumenfeld vorstellt – wild eben, irgendwie ungeordnet. Der Bereich stellte sich eindeutig spiralförmig dar. Mit einem Kern. Wie eine Sternengalaxie, fand ich. Wie merkwürdig. Ich machte Aufnahmen davon.
Auf den Namen «Sonnenblumengalaxie» kam ich gar nicht. Als meine Maschine wieder Boden unter den Füßen hatte, ließ ich mein Smartphone im Internet nach Galaxien recherchieren. Die ersten Suchergebnisse verwarf ich, doch als mir ein Bild mit dem Untertitel «Sunflower Galaxy» angezeigt wurde, lief mir trotz der sommerlichen Hitze ein kalter Schauer über den Rücken. Ich verglich das Foto aus dem Internet mit der Aufnahme, die ich in sechstausend Meter Höhe gemacht hatte. Dann öffnete ich eine Grafik-App, um beide Aufnahmen übereinander zu legen. Die Formen waren – absolut identisch.
Das ergab überhaupt keinen Sinn, deshalb suchte ich nach logischen Erklärungen für dieses Phänomen. Ich redete mir beispielsweise ein, dass es sich schlicht um einen unglaublichen Zufall handele, und ich wollte mir dies beweisen, indem ich bewies, dass es keine weiteren Zusammenhänge gab. Leider dauerte es nur zwanzig Minuten, bis ich erfahren hatte, dass die Sonnenblumengalaxie im Sternbild «Jagdhunde» liegt und dass der Name des Dorfes, aus dem die Kinder stammten – Bēṭenāyi – «abgerichteter Hund» bedeutet. Grundgütiger – wo war ich hineingeraten?
Ich war unschlüssig, was ich als Nächstes tun sollte – vielleicht hatte ich auch einfach nur Angst, den nächsten Schritt zu tun –, deshalb suchte ich nach einer Eingebung. Es kam keine. Mein Vater hatte immer gesagt: «Tue das, was du am besten kannst.» Es gibt zwei Dinge, die ich besonders gut kann: fliegen und Dummheiten machen. Manchmal auch beides gleichzeitig. Ich startete meine Propellermaschine.
Während ich zuvor die Sonnenblumenspirale kreuz und quer und außen herum überflogen hatte, wählte ich nun den Weg der Spirale selbst. Ich begann am äußeren Ende und zog immer enger werdende Kreise. Je enger der Kreis, desto langsamer die Geschwindigkeit – das gilt beim Autofahren genauso wie beim Fliegen. Der Unterschied zum Autofahren ist, dass das Flugzeug abkippen wird, wenn man eine bestimmte Geschwindigkeit unterschreitet. Man muss also aufpassen.
Ich hatte die Mindestgeschwindigkeit noch lange nicht erreicht, als meine Maschine plötzlich vibrierte und ins Trudeln geriet. Ich versuchte, die Geschwindigkeit zu erhöhen, doch das Flugzeug reagierte nicht. Stattdessen neigte sich die Flugzeugnase steil nach unten. In meinen Gurten hängend sah ich, dass ich auf den Kern der Spirale zusteuerte. Ich wartete auf den Aufprall.
Es gab keinen. Es wurde dunkel, das Flugzeug schrie und quietschte, ich wurde durchgeschüttelt, mir wurde schlecht, ich erbrach mich. Dann wurde alles ruhig. War ich jetzt tot? Ich roch mein Erbrochenes. Ich öffnete die Augen. Besah meine Hände, Arme und Beine. Alles noch da. Bewegen ließen sie sich ebenfalls. Ich konnte kein Blut entdeckten und fühlte keine Schmerzen. Dann sah ich aus dem Cockpit. Um mich herum war tiefste Nacht, die nur vom Licht meiner Landescheinwerfer durchbrochen wurde. Vor mir saßen drei Kinder auf einem Felsbrocken und starrten mich an.
Ich löste meinen Gurt, öffnete die Cockpittür, nahm meine Taschenlampe und stieg aus. Unter den ungläubigen Blicken der Kinder kontrollierte ich meine Maschine. Fahrwerk und Reifen schienen in Ordnung zu sein. Tragflächen und Propeller ebenso. Ich prüfte jedes lebensnotwendige Element und stellte erleichtert fest, dass nichts beschädigt war. Während ich das Erbrochene notdürftig von meiner Hose kratzte, sah ich zu den Kindern hinüber. Die saßen immer noch stumm auf dem Felsbrocken und beobachteten mich. Ich richtete meine Taschenlampe auf die Schwärze, die uns umgab. Ich konnte riesige glatte Baumstämme erkennen, deren Durchmesser ich auf fünf Meter schätzte. Ich ließ den Lichtstrahl an einem Stamm nach oben wandern. Das waren keine Bäume, die uns umgaben. Es waren riesige Sonnenblumen! Mir wurde wieder schlecht. Ich knipste die Taschenlampe aus und versuchte, ruhig zu atmen. Nach einigen Atemzügen hatte ich die Übelkeit im Griff, legte den Kopf in den Nacken und blickte zwischen den Sonnenblumenköpfen in den Nachthimmel. Er war wolkenlos. Und trotz der zahllosen Sterne schwärzer als das schwärzeste Schwarz, das ich je gesehen hatte. Ich suchte nach Sternenkonstellationen, um mich zu orientieren. Ich fand keine.
Nun ja, ganz richtig ist das nicht, denn ich fand etwas, das ich durchaus kannte, das jedoch nicht in dieser Form am Nachthimmel sein konnte: Sehr, sehr weit entfernt – unmöglich weit entfernt – erkannte ich die Umrisse der Milchstraße, die Galaxie, in der sich die Erde befindet.
«Heiliges Krambambuli», hätte mein Erdkundelehrer gehöhnt, «hoffentlich wird aus dir nie ein Pilot oder Kapitän, denn wer die Andromedagalaxie mit der Milchstraße verwechselt, muss schon arge Tomaten auf den Augen haben.» Ich rieb mir die Augen, sah noch einmal in den Nachthimmel. Es war unsere Milchstraße, daran gab es keinen Zweifel, und daran hätte auch mein Erdkundelehrer nichts ändern können.
Die Kinder hatten sich mittlerweile am Flugzeug versammelt und lugten durch die geöffnete Tür ins Cockpit. Viel schlimmer konnte es nicht werden, beschloss ich, dirigierte die drei ins Flugzeuginnere und betätigte den Startknopf. Ich gebe zu, ich hatte keine Ahnung, was ich vorhatte. Der Propeller begann sich zu drehen und ich setzte die Maschine in Gang. Während wir so dahinholperten, deuteten die Kinder plötzlich aufgeregt auf eine Stelle: Vor uns verschwand gerade ein riesiger Wurm in seinem Loch, und weil mir in diesem Augenblick der Begriff «Wurmloch» in den Sinn kam und ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, lenkte ich die Maschine dort hinein. Wir stürzten in das Loch, das Flugzeug schrie und quietschte, wir wurden durchgeschüttelt. Dann wurden wir ausgespuckt und ich brachte das Flugzeug mit zitternden Händen am Rand des Sonnenblumenfeldes zum Stehen. Ich schwöre beim Leben meiner Katze, dass ich mir vor Angst und Erleichterung ein bisschen in die Hose gepinkelt habe.
Daran musste ich denken, als wir dastanden und die Kinder von ihren Versuchen erzählten, telepathische Botschaften zu versenden. Inzwischen waren die Dorfbewohner auf uns aufmerksam geworden und begannen, uns neugierig zu umringen. Dann kam ein Reporter angefahren und die Kinder mussten alles von vorn erzählen. Kurz danach fuhr der Bürgermeister vor und die Kinder mussten erneut berichten. Wenn ich meinen Mund gehalten hätte, wäre vielleicht alles gut gegangen, aber ich musste ja unbedingt die historischen Zusammenhänge erläutern. Und während ich darlegte, dass der Büffeldämon Mahisasur höchstwahrscheinlich doch nicht von Durga, der Göttin der Vollkommenheit, Kraft und Weisheit erschlagen worden war, sondern in diesem Sonnenblumenfeld nach wie vor sein Unwesen trieb, was zur Folge hätte, dass die nach ihm benannte Stadt Mysurus wohl umgetauft werden müsse, sah ich, wie dem Bürgermeister das Blut aus dem Gesicht wich, und mir wurde auch gleich klar, weshalb das so war, denn wenn diese Geschichte ans Licht käme, würde sie ganz Indien, das die Heldentat der Göttin Durga verehrte, in ein religiöses Chaos stürzen – genau das, wonach Mahisasur trachtete. Ich verstummte. Der Reporter drehte sich auf dem Absatz um und fuhr eilig davon. Der Bürgermeister holte tief Luft, verkündete, die Kinder würden nur Blödsinn erzählen und befahl, sie in seinen Wagen zu schaffen. Dann setzte er sich zu den Kindern ins Auto und fuhr weg.
Das Feld mit den wilden Sonnenblumen steht nach wie vor, erfuhr ich vor Kurzem, allerdings sei es inzwischen von einem hohen Stacheldrahtzaum umgeben, und eine Patrouille achte darauf, dass sich dem Feld niemand näherte. Nach meinen Schätzungen müssen die indischen Behörden in wenigen Wochen sage und schreibe fünfzehn Kilometer Zaun gespannt und dafür siebentausend Betonpfosten gesetzt haben. Nicht schlecht, dachte ich, wenn die Kinder doch angeblich nur Blödsinn erzählen.

Comments