"Bin ich ein Narzisst?"
- Marion Schimmelpfennig
- 13. Aug.
- 2 Min. Lesezeit
Wenn du dich fragst, ob du ein Narzisst bist, dann frage ich dich etwas anderes: Bist du bereit, dir gezielt ein emotional offenes, oft verletzliches Opfer auszusuchen – jemanden, der Liebe sucht, Verbindung, Nähe, Sinn – und dieser Person genau das zu geben, was sie sich am meisten wünscht, nur um sie abhängig zu machen? Würdest du bewusst ihr Vertrauen gewinnen, ihr deine volle Aufmerksamkeit schenken, ihr das Gefühl geben, sie sei endlich angekommen, während du innerlich schon weißt, dass du nichts davon ernst meinst?
Bist du bereit, jemandem täglich zu schreiben, zu flirten, zu planen, Zukunftsversprechen zu machen, ihn mit Komplimenten zu überschütten, intime Gespräche zu führen, tiefe Sehnsüchte zu spiegeln, nur damit diese Person sich öffnet und in dich verliebt? Würdest du sie sexuell genau dort berühren, wo sie sich am lebendigsten fühlt, und emotional genau das geben, was sie bisher nie bekommen hat – mit dem Ziel, sie kontrollierbar zu machen?
Könntest du jemanden zum Zentrum deiner kleinen Welt machen, ihn mit Geschenken, Liebeserklärungen, Kosenamen, Überraschungen, Urlaubsplänen überschütten – nur um danach Stück für Stück die Kontrolle zu übernehmen? Ihn isolieren, subtil abwerten, mit Ironie oder Kritik verunsichern, bis er sich nicht mehr traut, dir zu widersprechen?
Würdest du es schaffen, Drama zu inszenieren, wenn du Aufmerksamkeit willst, und Kälte zu zeigen, wenn du Strafe verhängen willst? Könntest du jemandem Liebe entziehen, wenn du deine Macht spüren willst, und sie wieder dosiert zurückgeben, wenn du ihn gefügig brauchst?
Würdest du all das durchziehen, monatelang, vielleicht jahrelang, ohne Reue, ohne Skrupel – einfach nur, weil es funktioniert? Weil du bekommst, was du brauchst – Aufmerksamkeit, Bewunderung, Geld, Wohnung, Sex, Macht? Und wenn dein Opfer schließlich zerstört ist, müde, leer, orientierungslos – würdest du einfach gehen, und dir das nächste suchen?
Wenn du das kannst – bewusst, kalkuliert, mit kühlem Blick – dann brauchst du dir die Frage nicht mehr stellen. Dann bist du einer.
Aber wenn du beim Lesen innerlich zusammenzuckst, wenn du das Gefühl hast, allein der Gedanke daran tut dir weh, wenn du dich fragst, wie man überhaupt so sein kann – dann darfst du aufatmen. Dann bist du keiner. Dann bist du höchstens jemand, der sich selbst oft zu streng beurteilt, der gelernt hat, sich infrage zu stellen, weil andere ihn immer wieder manipuliert haben.
Und vielleicht liegt genau dort der Grund, warum du diese Frage überhaupt gestellt hast.

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