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ADHS oder PTBS? Wie Fehldiagnosen passieren


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Wenn das Nervensystem im Daueralarm-Modus steckt


Viele Menschen berichten von Symptomen wie innerer Unruhe, Konzentrationsschwierigkeiten, Vergesslichkeit oder Impulsivität – typische Anzeichen, die schnell mit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) in Verbindung gebracht werden. Doch nicht immer steckt tatsächlich eine neurobiologische Störung dahinter. Oft zeigt ein chronisch überreiztes Nervensystem, das durch langanhaltenden Stress oder Trauma (PTBS: posttraumatische Belastungsstörung) aus dem Gleichgewicht geraten ist, dieselben Symptome.


Das führt in der Praxis nicht selten zu einer Fehldiagnose ADHS, obwohl die Ursache eine völlig andere ist: ein Nervensystem, das nie die Chance hatte, sich zu beruhigen.


PTBS und ADHS – warum sich die Symptome ähneln


Ein traumatisiertes Nervensystem lebt im Prinzip ständig im „Überlebensmodus“. Fight, Flight oder Freeze sind dann keine kurzfristigen Reaktionen, sondern ein Dauerzustand. Das kann zu einer Vielzahl von Symptomen führen:


  • Konzentrationsprobleme und Vergesslichkeit – weil das Gehirn auf Gefahren scannt, statt fokussiert zu arbeiten


  • Innere Unruhe und Getriebenheit – ähnlich der Hyperaktivität bei ADHS


  • Impulsives Verhalten – da der präfrontale Cortex unter Stress weniger Kontrolle ausüben kann


  • Emotionale Überreaktionen – weil das Nervensystem auf kleinste Reize überempfindlich reagiert


All das sind auch klassische Kriterien für ADHS – und genau deshalb ist die Gefahr groß, dass Ärzte und Therapeuten Traumafolgen mit ADHS verwechseln.


Fachleute warnen vor Fehldiagnosen


Dass die Symptome eines dauerhaft überreizten Nervensystems im Erwachsenenalter leicht mit ADHS verwechselt werden können, ist wissenschaftlich dokumentiert. Fachliteratur weist darauf hin, dass Erwachsene mit traumatischen Vorerfahrungen oder komplexer PTBS häufig fälschlicherweise eine ADHS-Diagnose erhalten. Die Überschneidungen sind groß – innere Unruhe, Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen, Impulsivität oder Hypervigilanz können sowohl bei ADHS als auch bei Traumafolgestörungen auftreten. Entscheidend ist jedoch, dass die Ursachen unterschiedlich sind: Bei ADHS handelt es sich um eine neurobiologische Entwicklungsstörung, während traumabedingte Symptome auf ein Nervensystem im chronischen Alarmzustand zurückgehen. Internationale Übersichtsarbeiten (siehe Quellenangaben) betonen daher, dass die Diagnose von ADHS im Erwachsenenalter besonders komplex ist und immer das Risiko von Fehldiagnosen birgt.


ADHS oder Trauma? So lassen sich Unterschiede erkennen


Eine klare Trennung ist nicht immer leicht. Doch es gibt einige Hinweise, die helfen können:


  • Verlauf und Auslöser: ADHS ist eine neurobiologische Entwicklungsstörung, die meist schon in der Kindheit erkennbar ist. Traumafolgen entstehen oft nach belastenden Ereignissen oder langjährigem Stress.


  • Körperreaktionen: Traumafolgen zeigen sich häufig auch körperlich – Schlafstörungen, Anspannung, Verdauungsprobleme.


  • Schwankungen: Bei Trauma sind die Symptome oft abhängig vom Umfeld und können in sicheren Situationen deutlich abnehmen. Bei ADHS bleiben sie relativ konstant.


Nur ein erfahrener Experte kann im Rahmen einer umfassenden Diagnostik die richtige Einschätzung treffen – und genau deshalb ist es wichtig, die Lebensgeschichte einzubeziehen, nicht nur die Symptome.


Warum die richtige Diagnose so entscheidend ist


Eine Fehldiagnose ADHS kann gravierende Folgen haben. Wer in Wahrheit an einem traumatisierten Nervensystem leidet, braucht keine reine Medikation gegen ADHS, sondern vor allem Trauma- und Nervensystem-orientierte Therapieansätze. Dazu gehören:


  • Traumatherapie


  • Regulation des Nervensystems durch Atemübungen, Achtsamkeit und Körperarbeit


  • Stabilisierungstechniken, um sich im Alltag sicherer zu fühlen


  • Psychoedukation, um zu verstehen, dass die Symptome normale Reaktionen auf Überlastung sind


Die falsche Behandlung kann dagegen dazu führen, dass sich Betroffene noch mehr in Selbstzweifeln verstricken, weil Medikamente wenig oder nur kurzfristig helfen.


Fazit: Mehr Aufmerksamkeit für das Nervensystem


Nicht jedes Konzentrationsproblem bedeutet automatisch ADHS. Und nicht jede Unruhe ist ein neurologisches Defizit. Oft ist es das Ergebnis eines Nervensystems, das durch Trauma oder Dauerstress überfordert ist.


Die Frage sollte daher nicht nur lauten: „Habe ich ADHS?“ – sondern auch: „Könnten meine Symptome ein Zeichen dafür sein, dass mein Nervensystem seit Jahren im Überlebensmodus steckt?“


Wer diese Perspektive einnimmt, öffnet sich einem völlig neuen Weg der Heilung – nicht über Stimulanzien allein, sondern über Regulation, Selbstfürsorge und die Aufarbeitung tieferer Verletzungen.


Quellenangaben


Johnson, J., et al. (2021). Misdiagnosis and missed diagnosis of adult attention–deficit/hyperactivity disorder. BJPsych Advances. Cambridge University Press.


National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine (2023). Impact of Misdiagnosis, Bias, and Stigma. In: Identifying and Supporting Children with ADHD: A Resource for Clinicians. NCBI Bookshelf.


ADD.org. (2022). Is ADHD Overdiagnosed in Adults? Attention Deficit Disorder Association.


PTSD UK. (2022). Can PTSD be mistaken for ADHD? PTSD UK – Nonprofit Organisation.


La Concierge Psychologist. (2023). The Difference Between ADHD and PTSD-Related Executive Dysfunction.


Dobrosavljevic, M., et al. (2022). Miss. Diagnosis: A Systematic Review of ADHD in Adults. Frontiers in Psychiatry, 13:879435.

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